Sonntag, 15. März 2020 [prosaische betrachtung]

Am Morgen erfahren wir aus dem Internet, dass die Thomaskirche als scheinbar einzige aller Leipziger Kirchen, zumindest von denen im Innenstadtbereich, noch einen öffentlichen Gottesdienst durchführt, allerdings mit der Einschränkung, nur noch einhundert Menschen Einlass gewähren zu können. Eine andere Nachricht aus dem Netz verrät uns, dass aber die meisten Kirchen den ganzen Tag offen seien für individuelle Gebete. Seelsorger ständen ebenfalls zur Verfügung.

Wir entscheiden uns, in die katholische Propsteikirche zu gehen, da sie aufgrund ihrer Lage außerhalb des Zentrums erfahrungsgemäß weniger besucht ist, als die evangelischen Kirchen Nikolai und Thomas. Wir versprechen uns von dem sich nun einstellenden, wie wir bemerken, willkommenen Abstand auch etwas mehr Ruhe für unsere Gebete.

Am Eingang kommt uns bereits der Propst entgegen und erklärt, dass hier gleich ein Gottesdienst ohne Gottesdienstbesucher live übertragen wird, wir aber dennoch einen kurzen Besuch abstatten könnten.

So gehen wir hinein, merken aber schnell, dass aufgrund der Aktivitäten der Techniker die gewohnte und erhoffte Ruhe nicht zu finden ist. Wieder am Ausgang kommen wir noch einmal mit dem Propst ins Gespräch. Er ist freundlich, aber sichtlich von Anspannung gezeichnet. In mir steigen irritierende Gedanken auf, denn dass ein souveräner Mann wie er aufgrund der ungewöhnlichen Begebenheit, einen Gottesdienst vor einer Kamera in einer leeren Kirche zu halten, und der generellen Situation etwas verunsichert und nervös wirkt, bessert unser Gefühl und unsere Wahrnehmung nicht gerade. Nach dem Abschied beschließen wir, in die Nikolaikirche zu gehen, da der Gottesdienst in der Thomaskirche noch nicht zu Ende ist. Die Innenstadt ist auch für einen Sonntag ungewöhnlich menschenleer, in der Nikolaikirche finden wir, wohl auch aufgrund dieser Tatsache, ungeahnte Ruhe für innere Einkehr. Auf dem anschließenden Heimweg mich wieder umschauend benutze ich zum ersten Mal in Gedanken in Bezug auf die äußeren Eindrücke die Worte: apokalyptische Stimmung und teile dies auch Angelika mit. Sie nickt wortlos.

Nachmittags treffe ich mich dann wie verabredet eine Stunde vor unserer Lesung am Eingang des Ost-Passage Theaters mit Erepheus. Er teilt mir mit, dass aus seinem Umfeld fast alle Gäste bereits abgesagt haben. Im Innern des Theaters herrscht eine gespenstische Stille, das Personal ist wie gewohnt freundlich, aber die Nachrichten gehen auch an ihnen nicht spurlos vorbei, sie wirken nachdenklich und zum Teil nervös. Wir bereiten alles vor und eine halbe Stunde später erreicht, wie bereits im Vorfeld verabredet, Angelika mit drei weiteren Besuchern den Veranstaltungsort. Für Erepheus und mich steht außer Frage, dass wir, nun einmal hier, die Lesung auf alle Fälle durchführen werden, und Platz für Abstand ist aufgrund der inzwischen zu erwartenden geringen Besucherzahl mehr als genug.

Vor exakt sieben Besuchern halten wir unsere Lesung von Prosa und Lyrik und können somit für die Zuhö-rer und nicht zuletzt auch für uns für eine gute Stunde den Fokus der Gedanken ein wenig umlenken und das Gespenst im Kopf für diese Zeit für eine Weile ruhigstellen. Auf dem Rückweg ins Zentrum stelle ich mir die Frage, war’s das jetzt erstmal, war es das auf lange, nicht auszumachende Sicht mit der Kultur?

 

 

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